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Sonntag, 14. Februar 2016

Zombie des Tages

von Dion Teach (Download als MOBI-eBook)
Im Dämmerlicht scheinen Farben bis auf das Notwendigste reduziert. Diesen Eindruck erhält Tobias jedenfalls nahezu täglich, wenn er in seinem Krähennest sitzt und die unter ihm liegende Stadt beobachtet, die einen erneuten Tag in der Apokalypse erleben darf.
Er bläst in seine Hände ob des kalten Oktoberwetters und kramt eine Zigarette aus der verbeulten Packung. Die Letzte. Großartig. "Wieder ein guter Grund, einen kleinen Spaziergang in die Stadt zu unternehmen.", murmelt er zu sich selbst und zündet den krummen Glimmstängel an. Erleichtert bläst er den Qualm aus seinen Lungen und betrachtet nachdenklich die Zigarette.
Eigentlich hatte er immer gedacht, dass er ganz andere Sorgen in einer Welt wie dieser hätte, als seine Nikotinsucht zu befriedigen. Er dachte, ein jeder Mensch würde ums nackte Überleben kämpfen und sich so nach und nach aus Missgunst und Misstrauen selbst vernichten. Aber das brauchten sie nicht. Das haben andere für sie getan. Oder vielleicht haben sie es doch selbst getan. Es kommt auf die Sichtweise an.
Tobias schüttelt den Gedanken ab und senkt seinen Blick auf Straße. Unter ihm wanken Gestalten über die Bürgersteige. Sie scheinen schlaftrunken, als wären sie gerade aufgestanden und torkelten nach einer durchzechten Nacht zur nächsten Apotheke, um den verdienten Kater zu lindern. Nur, dass sie nicht wach sind. Sie werden nie wieder erwachen. Der junge Mann auf dem Flachdach des höchsten Gebäudes in der ländlichen Kleinstadt betrachtet die Untoten und beginnt sein tägliches Spiel. Er sucht den "Zombie des Tages". Dabei kommt es besonders auf äußerliche Verunstaltungen sowie Kreativität bei der Kleidungswahl an. Es gibt aber auch Punkte in der B-Note, wenn sie etwas alltägliches tun, wie einen Kinderwagen zu schieben oder Schaufenster zu streicheln als würden sie sie putzen.
Tobias stützt die Ellbogen ab und hält seinen Feldstecher vor die Augen. Zunächst fällt sein Blick auf eine weibliche Leiche. Sie trägt ein knappes weißes Kleid mit großen roten Punkten, welches in Fetzen an ihrem Körper hängt. Ein Träger ist eingerissen, sodass das Kleid eine Brust entblößt. Entblößen würde, wenn sie noch da wäre, denn dort, wo lebendige Frauen ihre sekundären Reize haben sollten, klafft eine große, krustige Wunde. "Interessant", murmelt Tobias. "aber nicht außergewöhnlich." Er sucht weiter.
Vor einem Schuhgeschäft kniet ein dicker Zombie. Er drückt sich am Schaufenster die Nase platt, während die schwarzen Stümpfe, an denen Füße sein sollten, aufgeregt auf und ab wippten. "Würdest du dir Schuhe kaufen, wenn du keine Füße hast?", erinnert sich Tobias an einen Witz und wendet den Feldstecher mit einem amüsiertem Lächeln weiter.
Hinter einer Hausecke steht ein hagerer Zombie mit einer Baseballcap und lugt immer wieder um die Ecke. Sein Gesicht wird von einem Vollbart verdeckt. Er schaut immer über den Bürgersteig zu dem untoten Mädel im zerissenen Kleid. "Kleiner Perversling", kichert Tobias. "Wenn du gleich vor ihr hüpfst und blank ziehst, ist dir der Titel sicher."
Der junge Mann auf dem Dach ist gespannt und beobachtet die Szene. Das tote Weibchen nähert sich mit torkelnden Schritten der Hausecke. Tobias fällt auf, dass sie auf ihren Stöckelschuhen besser als so manch Lebendige balanciert. Ihm wird ein wenig wehmütig ums Herz. Zu Lebzeiten warst du bestimmt bildhübsch, vielleicht sogar ein Model. Wir hätten uns mal verabreden können und ... quatsch!, schallt er sich in Gedanken. Du hättest doch nie die Eier gehabt sie anzusprechen! Du hättest sie unendliche Augenblicke angestarrt und deinen Blick abgewendet, wenn sie zufällig in deine Richtung geblickt und ihre makellosen Zähne entblöste, weil sie dir ein Lächeln schenken wollte.
Der Späher resigniert vor sich selbst. Ihm fällt wieder ein, wie einsam er seit einiger Zeit ist. Er war nie ein Frauenheld. In seinem dreißigjährigem Leben hatte er nur wenige Freundinnen. Die letzte vor fünf Jahren. Sie war ein Besen von einer Frau. Fett und unfreundlich, aber selbst bei ihr hatte er es vermasselt. Dabei sehnt er sich seit er klar denken kann nach emotionaler Wärme und Geborgenheit. Jemand, der einem in schweren Zeiten beisteht und die guten Zeiten in vollen Zügen mit ihm zusammen zu genießen weiß.
Er wünscht sich... Tobias wird aus seinen Gedanken gerissen. Auf der unter ihm liegenden Bühne beginnt das Schauspiel. Die tote Frau ist noch etwa vier Meter von der Hausecke entfernt. Der perverse Zombie lugt wieder hinter der Wand hervor und zuckt schnell wieder zurück. Tobias macht den Camcorder an seiner Seite startklar und platziert ihn am Rand des Daches, den Zoom voll ausgereizt. Dann greift er wieder zum Fernglas und freut sich auf das Schauspiel. Die Leiche im Punktekleid nähert sich der Hausecke. Drei Meter. Zwei Meter.
"Komm schon, langsam musst du loslegen", spornt Tobias der Exhibitionisten leise an. Plötzlich Bewegung! Der tote Mann springt hinter der Wand hervor. Verwirrt hält das Zombiemodel inne. Ihr Gegenüber reißt seine Hand hinter seinem Rücken vor. Er hat eine Axt in der Hand! Tobias glaubt seinen Augen nicht. In einer fließenden Bewegung schlägt der Perverse seinem Opfer die Axt in den Schädel, sodass sie zur Seite weg kippt. Er geht einen Schritt auf sie zu, zieht das Instrument aus ihrem Schädel und versenkt seinen Stiefel in die offene Wunde, sodass er Kopf zu platzen scheint. Schwarzer Matsch, der einmal Blut war, sowie Hirnmasse wie gammelige Spaghetti verbreiten sich auf dem Bürgersteig.
"Der Typ ist gar nicht tot", kommt Tobias die Erkenntnis. "Der Mann lebt!" Er will aufschreien und sich bemerkbar machen, reißt sich allerdings zusammen. Er muss ihn irgendwie dazu bringen, dass er Tobias sieht. Er schaut sich in seinem Krähennest um und erspäht sein Notfallseil. Er hat es hier extra deponiert, falls er das Dach einmal schnell verlassen muss. Sein Blick geht weiter zu seinem Klappstuhl und ein Licht geht ihm auf.
Er nimmt das Seil und befestigt es an dem Stuhl. Dann lässt er den Stuhl langsam an der Hauswand hinab. Mit einem Besen vergrößert er den Abstand zu Wand und beginnt den Stuhl pendeln zu lassen. Etwa fünfzehn Meter unterhalb seiner derzeitigen Position setzt sich der Stuhl langsam in Bewegung. Für den Feldstecher hat er keine Hand frei, sodass er den Pol seiner Aufmerksamkeit mit bloßen Augen beobachten muss. Dieser scheint das Zeichen jedoch nicht zu bemerken. Er durchsucht seine Beute und blickt sich immer wieder hektisch nach den anderen untoten Passanten um. Plötzlich scheint er aufzuschrecken, als er in Tobias Richtung schaut. Seine Augen folgen dem Seil und er erblickt Tobias an der Oberkante des Hauses. Er schwenkt die Axt. Offensichtlich hat er verstanden und Tobias beginnt mit dem Abbau seiner Bemühungen.
Er erwartet seinen Gast im Treppenhaus. Auf der Treppe zur fünften Etage hatte Tobias vor einiger Zeit eine Barrikade aus Möbeln und Stacheldraht errichtet, um sich vor ungebetenen Gästen zu schützen. Die improvisierte Mauer ist mannshoch, sodass man von unten nicht erkennen kann, was dahinter vor sich geht. Tobias hört lediglich, wie die Schritte vor seinem Meisterwerk abrupt zum stehen kommen. "Willst du mich veräppeln?", dringt eine atemlose Stimme über die Barrikade zu ihm. "Der Aufzugsschacht", antwortet er. "Du musst dich an den Seilen hochziehen." Mit einem resignierendem Seufzer begibt sich der Fremde in Bewegung.
In der fünften Etage angekommen geht der bärtige Fremde schnaufend in die Hocke. "Alter", keucht er. "So eine Aktion ist auch ohne zwanzig Kilo Rucksack eine Tortur." Tobias zuckt mit den Achseln. "Immernoch besser, als morgens aufzuwachen und festzustellen, dass man gefressen wurde." Der Bärtige wirft ihm ein schiefes Grinsen zu und nickt anerkennend. Dann richtet er sich und lüftet seine Cap. "Gregor." Tobias hält ihm die Hand hin. "Tobi." Der Fremde blickt sich um und ignoriert die dargebotene Hand, sodass Tobias sie nach fünf Sekunden wieder herunter nimmt. "Du wohnst doch nicht hier im Flur, oder?", fragt Gregor und kratzt sich am Kopf. Tobias schüttelt den Kopf und deutet ihm mit dem Kopf, ihm zu folgen.
Als sie im siebten Stockwerk ankommen, nimmt Gregor seine Cap vom Kopf und wischt sich den Schweiß von der Stirn. "Du willst mich fertig machen, oder? Gibt es hier keinen Lift?" Tobias grinst amüsiert. "Hast du doch probiert. War doch auch nichts für dich." Gregor zieht einen Mundwinkel hoch und nickt wieder. "Zwei zu null für dich."
Tobias öffnet die Wohnungstür und geht voran. Gregor folgt ihm. Er breitet seine Arme aus und dreht sich zu seinem Gast um. "Willkommen in meinem kleinen Reich. Nichts großartiges, aber trocken, warm und ich hab' jede Menge zu futtern da." Gregor betritt die Wohnung und geht ins Wohnzimmer. Er schaut sich staunend um. Die Einrichtung ist zweckmäßig, aber auch irgendwie gemütlich. Die Möbel sind an die Wände verschoben, sodass die Mitte frei für andere Arbeiten ist. Sein Blick fällt auf die freien Fenster. "Schon mal drüber nachgedacht, die Fenster zu zunageln? Könnte sicherer sein." Der Gastgeber lässt sich auf den Sessel fallen und hebt ahnungslos die Hände. "Schonmal eine Leiche an einer geraden Wand hochklettern sehen?" Gregor deutet auf den Flur. "Du hast 'n Treppenhaus." Tobias nickt grinsend. "Stimmt, aber der Lift ist kaputt." Der Fremde muss wieder grinsen. "Drei zu null."
Während der Fremde sich weiter in der Wohnung umschaut, freut sich Tobias, auch wenn er es nach außen nicht zeigen mag. Ein Kamerad in dieser Zeit ist was großartiges. OK, er ist keine attraktive Frau, aber man sollte nicht wählerisch sein. Und wir können uns prima unterstützen, uns gemeinsam was aufbauen und möglicherweise, wenn sämtliche Götter es gut mit uns meinen, können wir sogar überleben. Tobias' Freude steigert sich zur Euphorie. Zu zweit stehen die Chancen grundsätzlich besser und vielleicht finden wir ja noch mehr Überlebende, sodass wir eine Kolonie oder so etwas ähnliches gründen können. Wir könnten uns selbst versorgen und füreinander da sein. Er sieht schon eine glückliche Gemeinde vor seinem inneren Auge, die der Apokalypse trotzt und ein neues Leben beginnt.
Gregor betritt wieder den Raum. "Hier kommt kein Zombie hin?" Tobias schüttelt eifrig den Kopf. "Selbst wenn ich die Musik voll aufreißen würde nicht. Magst du Rockmusik?" Er springt auf will seinem neuen Freund seine CD-Sammlung zeigen. "Du hast dich hier wirklich gut eingerichtet. Hast an alles Gedacht: Nahrung, Wasser, Wärme, Schutz..." Tobias kniet auf dem Boden und schaut seine CDs durch. "Von nichts, kommt nichts."
Gregor nickt. "Wirklich an alles gedacht. Danke dafür!" Tobias schaut erschrocken auf und blickt direkt in den Lauf einer P1. "Aber..." Mehr brachte er nicht mehr hervor, als ein ohrenbetäubener Knall die Wohnung erschüttert. Er sieht das Projektil förmlich in Zeitlupe auf sich zurasen, fühlt sich jedoch nicht im Stande sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Er wurde verraten. Der erste Mensch, den man nach Monaten trifft und der bringt einen aus Misstrauen und Missgunst um. Er hatte es ja kommen sehen.
Als der leblose Körper auf den Boden trifft, grinst Gregor. "Ausgleich."

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