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Sonntag, 30. Oktober 2016

Scheiß Montag

Die folgende Kurzgeschichte ist etwa zehn Jahre alt. Ich habe sie erst vor Kurzem in der Unendlichkeit meiner Verzeichnisse und Dateien wiedergefunden. Ich habe sie nur kurz überarbeitet, da ich (v.a. für mich selbst) einen Fortschritt, einen Progress feststellen möchte. Viel Spaß beim lesen!

Scheiß Montag (Download ePub)

Der scharfe Wind haut einem hier oben seine Wogen erbarmungslos um die Ohren und die elektrisierte Luft kündigt ein mindestens ebenso erbarmungsloses Gewitter an. Ein Gewitter, welches sich mit großem Getöse aufbaut und alles mit einem heftigen Regenguss hinfort spült, was nicht mehr gebraucht wird. So auch mich.
Ich wiederhole meinen Blick über die Schulter bestimmt schon zum hundertsten Mal und sehe immer noch keine Veränderung. Hinter meinem Rücken geht es immer noch zwanzig Stockwerke ohne Umwege hinab. Ob meine Eltern sich erschrecken würden, wenn ich plötzlich am Fenster vorbei sauste und zum Abschied noch einmal winkte? Ein Freund von mir scherzte einmal: „Weißt du was Glück ist? Wenn du von einem Hochhaus fällst und unterwegs mit dem Auge an einem Nagel hängen bleibst. Und weißt du, was Pech ist? Wenn der Nagel schon besetzt ist!“

Hoffentlich passiert das nicht! Das würde meinem Vorhaben nicht gerade zuträglich sein. Ich meine, wenn ich gemäß des Scherzes Glück hätte. Aber so wie dieser Tag heute verlaufen ist, werde ich wohl kein Glück haben. Es hat also auch etwas Gutes, wenn Pech kalkulierbar wird.
Der Tag hat begonnen, wie schlechte Tage nun mal so beginnen: Ich habe verschlafen.
Komischerweise sind beschissene Tage immer Montage. Ich bin also zur Schule gerannt und wäre dabei beinahe überfahren worden. Hätte ich ein paar Stunden in die Zukunft schauen können, hätte ich diese dankbare Gelegenheit wohl kaum ausgeschlagen.
So kam es, dass ich völlig außer Atem und unfrisiert in die Aula platzte. Ruckartig drehten sich fünfzig Köpfe gleichzeitig zu mir. „Sorry, hab verpennt!“, versuchte ich mich zu entschuldigen, aber der Oberstufenleiter auf der Bühne schüttelte nur den Kopf und deutete mir an, mich zu setzen. Nach einer ausschweifenden und vor allem langweiligen Rede des untersetzten, alten Lehrers über das Leben, die Zukunft und irgendwelchen Fundamenten, wurden wir einzeln in ein Klassenzimmer gebeten, wo wir unsere Abiturnoten erfahren sollten. Da meine Eltern mich mit dem wundervollen Namen „Wertmann“ segneten, musste ich warten, bis alle anderen fertig waren.
Ich betrat das Büro des Oberstufenleiters. „Herr Wertmann, sie haben sich ja offensichtlich ganz schön beeilt heute morgen.“ Ich setzte erneut zu einer Entschuldigung an, doch der Alte unterbrach mich barsch. „Wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Sie sind wieder durchgefallen. Sie sind scheinbar nicht das, was man allgemein hochschulreif nennt. Vielleicht haben sie ja an anderer Stelle in ihrem Leben mehr Glück.“
Sauer verließ ich das Büro. Dieser Penner! Der konnte mich noch nie leiden. Der hat mir die Sache in der Sporthalle, als ich ihm beim Duschen alle Kleider geklaut habe, wohl nie wirklich verziehen. Nachdenklich, was ich mit diesem verkorksten Start in die Arbeitswelt anfangen sollte, begab ich mich wieder auf den Weg nach Hause.
An einem Kiosk traf ich Irene. Wir waren anderthalb Jahre zusammen gewesen, dann hatte sie Schluss gemacht. Ich habe so oft versucht mit ihr zu reden, doch sie meinte immer nur, dass es endgültig aus sei.
„Hallo Irene“, grüßte ich vorsichtig. „Können wir vielleicht nicht noch einmal über ...“ Noch bevor ich den Satz beenden konnte, drehte sich ein Kerl vor ihr um, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte: „Komm, Schatz. Ich muss noch schnell in den Buchladen.“
Ich machte sofort auf der Stelle kehrt und fischte hastig mein Telefon aus der Tasche, um irgendwie beschäftigt zu wirken. Der Anblick, als die beiden abzogen, traf mich wie ein unangekündigter Tritt in die Eier. Damit war auch der letzte Funken Hoffnung endgültig erloschen und ich musste einsehen, dass ich die Liebe meines Lebens wohl nie wieder in meine Arme schließen würde. Ein dreckiges Gefühl.
Ich beschloss nach hause zu gehen und mich dem Zaubertrank hinzugeben, der schlimme Erinnerungen auslöscht und Gefühle abtötet. Ich konnte mich ja gleich daran gewöhnen, bereits früh am Tag besoffen zu sein.
Auf dem Küchentisch lag ein Einschreiben für mich, dessen Absender sich in dicken schwarzen Lettern vorstellte: Bundeswehr. Verdammt, ich hatte vergessen den Kriegsdienst zu verweigern! Ab dem 1. Oktober soll mein schönes Leben aufhören und ich soll mich für neun Monate nur dem Staat hingeben. Großartige Aussichten, wo ich doch praktizierender Pazifist bin. Na ja, „praktizierend“ trifft es vielleicht nicht so recht, aber ich besitze keine Schusswaffen und verprügle auch niemanden.
Neben dem Einschreiben lag eine Notiz von meiner Mutter. „Einkaufen! Hab dich lieb. Mama“ Mir fiel wieder ein, dass meine Eltern für eine Woche zu meiner Großmutter gereist waren. Ein Blick in die Schränke verriet den Grund für Mamas Empfehlung. Ich hatte gerade eh keinen Appetit.
Ich ging in mein Zimmer und sinnierte über Sinn und Unsinn des Lebens und kam zu dem Schluss, dass es letztendlich keinen Sinn hatte. Das Leben ist nicht mehr, als eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen, Verfehlungen und guten Ratschlägen, die letztendlich nur in eines münden: Dem Grundwehrdienst!
Mit solchen Gedanken im Kopf ist es wohl nicht verwunderlich, dass ich letztendlich auf dem Dach des Hochhauses gelandet bin, um den schnellsten Weg herunter zu nehmen. Gut, dass es schon dunkel ist, sonst könnte ich mir noch von einem gestressten Polizeibeamten anhören, wie schön das Leben sein kann und dass ich doch noch mein ganzes Leben vor mir hätte. Pah! Wenn der ein Schüler in der heutigen Zeit wäre, würde der nicht so blöd daher labern, sondern sich neben mich setzen und eine Wette starten, wer zuerst unten sein würde.
Ich werfe zum hundertersten Mal einen Blick über die Schulter. Gut, es geht immer noch zwanzig Stockwerke bergab. Ich zähle langsam in Gedanken von zehn runter. Bei Null würde ich mich einfach rückwärts fallen lassen. 10 … 9 … 8 … 7 … 6 …
Ich höre Stimmen. Die Tür zum Treppenhaus wird geöffnet und ein Pärchen betritt das Dach. Sie sind aufgeregt. „Das wird so toll!“, sagt das Mädchen. Ich kenne sie. Sie wohnt im Vierten. Ihr Macker pflichtet ihr bei. „Da sag nochmal, ich wär nicht romantisch.“
Bevor sie sich an die Arbeit machen, mache ich mich doch lieber bemerkbar. „Ähm … könntet ihr das vielleicht noch um zehn Minuten verschieben? Ich hab da eben noch was zu erledigen.“
Erschrocken schauen sie zu mir rüber. „Was machst du denn da? Willst du dich etwa umbringen?“ Jetzt ist es soweit. Ich sehe unten schon die Blaulichter und den unsicheren Polizisten, der auf mich einredet.
Ich schüttel den Kopf. „Nee, ich … wollte Blitze gucken.“ Die beiden zeigen sich unbeeindruckt. „Dann guck doch von deinem Fenster aus! Los, verzieh dich!“ Ich hadere mit mir selbst, aber die beiden haben die Stimmung brutal kaputt gemacht. Es ist wie auf der Herrentoilette. Wenn einer zuguckt, kann ich einfach nicht!
Ich gehe wieder in meine Wohnung, wo mich das Dekorationsband einer Stehlampe verführerisch anlächelt. Nachdem ich es raus gezogen habe, gehe ich wieder raus. Mein Ziel: Der Wald.

Ich spaziere lange durch den stockfinsteren Wald, bis ich einen geeigneten Baum gefunden habe. Schön abseits der Wanderwege. Ich will ja morgen keine Kinder oder alten Frauen erschrecken.
Ein solider Ahornbaum soll es sein. Die Kletterei ist ein Kinderspiel und ehe ich mich versehe, habe ich die Schlinge locker um den Hals hängen und stehe wieder da, wo ich angefangen hatte.
Dieses Mal lasse ich keine Gedanken zu. „Wer redet, schießt nicht.“, hatte Clint Eastwood mal gesagt. Und wer denkt, springt nicht. Ich höre auf zu denken und springe.
Blöderweise bricht mein Genick nicht und ich muss ersticken. Tapfer sein, heißt es jetzt. Ist ja gleich vorbei.
Plötzlich blendet mich ein gleißendes Licht. Ich schaue auf und für einen Moment vergesse ich, dass ich gerade sterbe. Nur wenige Meter von mir entfernt schwebt langsam eine hell leuchtende Disco-Kugel auf den Boden zu. Sie landet und öffnet sich. Heraus tritt ein Frosch! Ein menschenartiger glitschiger Frosch, der einen Gürtel trägt.
Mein Herz schlägt zum zerbersten und ich frage mich, ob das vom Sauerstoffmangel oder dieser Gestalt her rührt. Ist das etwa Gott? Viele berichten ja von einem hellen Licht, aber irgendwie hatte ich mir das immer anders vorgestellt.
Der Frosch sieht mich und hastet auf mich zu. In Rekordzeit erklimmt er den Baum, zieht ein Messer und sticht zu. Ich knalle voll auf mein Steißbein und bleibe hustend am Boden liegen. Der Frosch gesellt sich zu mir und geht in die Hocke. „Geht's wieder?“
Ich traue meinen Ohren nicht und kann dieses Wesen nur anstarren. Der Frosch winkt. „Hallo? Hast du irgendwelche Verletzungen? Kannst du reden?“ Ich muss träumen. Wahrscheinlich bin ich gerade ohnmächtig geworden und träume jetzt. Tatsächlich hänge ich noch am Baum und hauche meinen Lebensatem aus.
Der Frosch rüttelt mich und verpasst mir eine schallende Ohrfeige. „Au! Spinnst du? Soll ich dir auch eine reinhauen?“ Der Frosch grinst (oder so etwas ähnliches). „Na also, geht doch. Steh auf.“ Immer noch halte ich meine schmerzende Wange, gehorche aber. „Was willst du von mir? Und wieso kannst du sprechen?“
Der Frosch steckt das Messer ein. „Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Ich soll dich festnehmen.“
Ich glaube, ich spinne. „Festnehmen? Mich? Aber wieso?“ Der Frosch packt mich bei den Armen und dreht sie mir auf den Rücken. „Unerlaubter Suizidversuch. Komm mit.“ Er stößt mich vorwärts zu seiner Disco-Kugel. „Unerlaubt? Wieso unerlaubt?“ Wir erreichen die Kugel und ich trete ein. Meine Wache scheint die Geduld zu verlieren. „Unerlaubt, weil es dir nicht erlaubt ist. Ganz einfach! Du kannst dich nicht einfach wild umbringen. Wo kommen wir denn da hin, wenn das jeder macht? Du musst, wie jeder andere auch, einen Antrag stellen, die Gebühr entrichten und auf eine Genehmigung warten. Vorher geht gar nichts.“ Antrag? Mich beschleicht der Gedanke, dass ich bereits tot und in der Hölle bin. Da landen Selbstmörder doch angeblich.
Wir beide nehmen Platz, die Kugel schließt sich und wir starten. „Wo fliegen wir denn hin?“
„Zum Mond.“
„Zum Mond? Was wollen wir denn da?“
„Hab ich doch gesagt: Du bist verhaftet. Dir wird dort der Prozess gemacht. Ich habe eine Ausnahmegenehmigung. Du kommst heute noch dran.“
Na gut, dann spiele ich halt mit. „Kann ich mal deine Marke sehen?“ Er lacht auf. „Was für eine Marke? Du kannst meine Marke riechen, wenn du willst. Aber das wird dir nicht gefallen, he he.“
„Aber wenn du mich verhaften darfst, musst du doch Polizist sein? Sonst kann ja jeder kommen.“
„Ich bin ein Blorb. Und nur Blorbs dürfen Verbrecher festnehmen und abführen.“
Ich nicke. „Aha. Und ihr Blorbs, seht ihr alle so aus? Ich meine, heißt dein Volk so?“
„Mein Volk?“, mein Entführer kratzt sich am Kopf. „Nein. Mein Volk heißt 'Frösche'. Das ist der Plural, also die Mehrzahl, von 'Frosch', weißt du?“ Er lacht über seine eigene Schlagfertigkeit.
„Ha ha“, mache ich lakonisch. „Und was ist ein Blorb?“ Der Fahrer schüttelt den Kopf. „Hab ich doch gerade gesagt. Du stellst echt zu viele Fragen. Sei einfach ruhig, wir sind gleich da.“
Tatsächlich ist der Mond ziemlich schnell ziemlich groß geworden. Wir umrunden ihn zur Hälfte, sodass die Erde nicht mehr zu sehen ist, und halten auf einen der berühmten Krater zu. Dieser fährt plötzlich nach innen und öffnet sich dann, wie eine Schiebetür. „Das ist ja der Hammer!“, entfährt es mir. Der Blorb dreht sich grimmig um. „Jetzt hab ich aber die Faxen dicke!“ Er zieht eine Pistole aus seinem Gürtel und schießt auf mich. Es wird schwarz um mich herum.

Ich erwache in einem großen Saal. Um mich herum sitzen jede Menge Frösche und quaken wild durcheinander. Mein Entführer sitzt neben mir und schweigt. Ein alter Frosch betritt das Richterpult und verschafft sich mit einem Hammer Ruhe. „Wollen wir anfangen.“, beginnt er. „Manuel Wertmann? Sie werden beschuldigt, sich gesetzwidrig verhalten zu haben, indem sie sich selbst umbringen wollten ohne es vorher zu beantragen. Das nennt man Steuerhinterziehung!“
Ich setze zu einer Antwort an, werde aber jäh unterbrochen. „Sie haben nicht das Wort. Wo war ich? Ach ja! Ist es richtig, dass sie sich vor etwa vor einer Stunde an einem Baum auf der Erde aufgehängt haben, sodass Blorb Gulp sie retten musste?“
Ich nicke vorsichtig. „Dann sind sie schuldig. Ich verurteile sie zu zwei Jahren Gefängnis, sofort zu verbüßen. Schafft ihn weg.“
Ich protestiere, verlange ein neues Verfahren und drohe mit Berufung, doch interessiert das niemanden. Ich werde durch schier endlose Korridore geschleift, fahre fünf mal Fahrstuhl und stehe schließlich vor einer Gefängniszelle. Gulp, dessen Namen ich ja jetzt kenne, und ein anderer Frosch durchsuchen mich, nehmen mir mein Handy, meine Schlüssel und meine Geldbörse ab, und stoßen mich in die Zelle.
Die Zelle sieht wie jede andere Zelle aus. Ich lasse mich auf das Bett, eine Pritsche, nieder und rekapituliere das Erlebte. So wie es aussieht, werde ich in diesem Loch eine ganze Zeit festhängen. Ich muss hier irgendwie raus, um … Ja, warum eigentlich? Damit ich mich auf der Erde umbringen kann? Das ist ja offensichtlich verboten und das Gesicht eines Beamten, wenn ich einen Antrag auf Selbstmord stellen möchte, kann ich mir nur zu gut vorstellen. Nein, nein. Ich muss zu meinem eigentlichen Plan zurückkehren.
Ich ziehe meinen Gürtel aus meiner Hose und schaue mich um. Da ich kein Rohr oder etwas ähnliches finde, versuche ich es an den Gitterstäben. Ich ziehe den Gürtel durch zwei Stäbe, quetsche meinen Kopf in die Schlinge, ziehe kräftig und rutsche mit den Füßen vom Bett runter. Wieder ereilt mich das Gefühl von Ersticken und einem großen Druck im Kopf und dieses Mal bin ich zuversichtlich, dass es funktionieren wird.
… funktionieren würde, wenn Gulp nicht schon wieder eingreifen und mich los schneiden würde. Nach meinem Hustenanfall brülle ich ihn an. „Was ist dein Problem? Lass mich doch einfach verrecken!“ Der Frosch schüttelt den Kopf. „Ich hab dir erklärt, dass es so einfach nicht geht. Mitkommen!“
Er zerrt mich erneut vor den Richter. „Was ist denn noch?“, fragt dieser ungehalten. Gulp antwortet: „Er hat es schon wieder versucht. Gerade in seiner Zelle.“ Der Richter wird laut und haut vor Wut mit dem Hammer auf den Tisch. „Stimmt das?“
Ich nicke. „Und ich würde es wieder machen!“ Der alte Frosch ist empört. „Wenn das so ist, verurteile ich Sie zum Tode. Sofort vollstrecken!“
Gulp zieht eine Pistole und hält sie mir an den Kopf. „Das hättet ihr auch einfacher haben können!“, rufe ich. Der Frosch drückt ab.

Scheiß Montag.

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