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Freitag, 4. November 2016

Marionette

Ebenfalls eine ältere Geschichte, wieder ein wenig nachbearbeitet. In der Kurzgeschichte geht es um einen jungen Mann, dessen Leben zweifelhafte Wege einschlägt, während er mit einem verrückten Puppenspieler und einem Neandertaler zusammenlebt. Viel Spaß!


Marionette (epub herunterladen)

Hin und wieder beschleicht jeden das penetrante Gefühl, nicht Herr seiner eigenen Existenz zu sein. Wie in einer Achterbahn, spielt sich das Leben vor den eigenen Augen ab und man selbst kann aus einem unerfindlichen Grund nur blöd aus der Wäsche gucken und empört «Moment mal...» rufen.
Patricks Leben spielte sich bereits seit Monaten genau so ab. Er war Fahrradkurier. Dieser Job war für das angesprochene Gefühl zwar nicht verantwortlich, trägt aber auch nicht zu dessen Beseitigung bei.
Außerdem hatte er eine Freundin. «Hatte» bringt das Problem auf den Punkt. Er hatte sich nämlich plötzlich von ihr getrennt. Ganz plötzlich. So plötzlich, wie man die Tür öffnet und feststellt, dass ein Typ einem offenbar die Frau ausgespannt hat. Und den Bademantel! Oder der Bademantel hat ein Eigenleben entwickelt und besorgt es seiner Freundin jetzt so richtig. Aber die Wahrscheinlichkeit ging gegen Null.
Hätte Patrick eine Flinte gehabt, wäre er am nächsten Tag garantiert Protagonist einer Zeitungsmeldung geworden, die auf die Worte «… und dann richtete er die Waffe auf sich selbst» endete. Da er aber keine Flinte hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die Wohnung.
Er hatte das Treppenhaus noch nicht verlassen, da kam seine frisch gebackene Ex-Freundin spärlich bekleidet hinter ihm her und behauptete auch noch, alles erklären zu können. Patrick deutete wütend auf ihren Schritt. «Erkläre mir doch erst einmal, warum du es nie merkst, wenn das Gummi noch zwischen deinen Beinen baumelt ?!» Mit diesen Worten ließ er es baumeln.
Auch diese kleine Geschichte, die sich kein Autor je hätte ausdenken können, war nicht der Grund für Patricks Gefühl der Ohnmacht, bezogen auf sein Leben. Aber es hatte maßgeblich zu dessen Entstehung beigetragen, soviel ist sicher.
Heute hat Patrick seine Ex vergessen. Er hat auch andere Probleme. Probleme, die nun einmal unvermeidlich sind, wenn man sein Heim mit einem Höhlenmensch und einem Puppenspieler teilt.
Der geneigte Leser mag an dieser Stelle zurecht verwirrt sein, aber auch Puppenspieler leben in Wohnungen.
Seitdem dieser nämlich «König der Löwen» gesehen hat, rennt er mit einer kleinen Löwen-Handpuppe herum und spricht nur durch diese Puppe. In einem klaren Moment hat er einmal behauptet, der Geist von Mufasa sei bei dessen Tod auf ihn übergegangen und nun würde er ständig die Kontrolle übernehmen. Wie ein verrückter Puppenspieler in Patricks Leben kommt?
Nachdem seine Freundin ausgezogen war, durchlief Patrick das übliche Szenario: Viele Tränen, viel Alkohol und eine ständig wachsende DVD-Sammlung. Letztendlich fühlte er sich einsam und hatte einen Mitbewohner gesucht. Der Puppenspieler, er nennt sich übrigens «Simba», war bei der Bewerberauswahl das kleinste Übel.
Als ob dieser Irre allein nicht schon im Stande gewesen wäre, Patricks Zweifel an seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu schüren, ließ das Schicksal ihn auf Bongo, den Höhlenmensch, treffen. Im Grunde war es jedoch andersrum. Bongo traf ihn mit seinem Körper, als er durch den Zeitspalt gefallen war.
Er entpuppte sich als gutmütiger, doch viel zu schreckhafter, und offensichtlich dauergeiler Neandertaler. Wie er so im Regen saß, sich fürchtete und irritiert umschaute, tat er Patrick irgendwie leid, weswegen er ihn mitnahm.
Diese beiden Faktoren sind die tatsächlichen Gründe für Patricks Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Was er auch anfängt, irgendwie haben die beiden ständig mit dessen Scheitern zu tun.
So wie heute.
Patrick geht morgens wie gewohnt zu Arbeit. Das schlechte Gewissen, welches er anfangs immer hat, wenn er die beiden Chaoten allein zu hause lässt, hat sich inzwischen gelegt und ist einer destruktiven «Leck-mich-am-Arsch»-Einstellung gewichen.
Am späten Nachmittag beobachtet Bongo den Puppenspieler ganz genau bei der Zubereitung seines üblichen Schnitzelsaftes. Es beeindruckt den Neandertaler immer wieder, was die moderne Technik alles vorbringen kann. Blöd ist nur, dass diese Technik selten das fabriziert, was sich der Urmensch gerade wünscht. Also nutzt er jede sich bietende Gelegenheit, um in der Bedienung derartiger Gerätschaften firm zu werden.
Der Puppenspieler gibt zwei klein geschnittene, rohe Schnitzel, etwas Milch und zwei Ananasscheiben in den Mixer. Bongo steht auf, um das Ergebnis von ganz nah begutachten zu können. Als Simba auf den roten Knopf drückt, ertönt das laute Geräusch des Zerhackens. Der Neandertaler erschreckt, schreit kampfbereit auf und schlägt mit seinem Knüppel auf das arbeitende Küchengerät ein. Nach zwei gezielten Schlägen liegt das Gerät regungslos am Boden. Entschlossen greift der Neandertaler zu und schleudert es aus dem Fenster. Stolz und grinsend dreht er sich ob des erlegten Feindes zu seinem Mitbewohner um. Dessen Erleichterung hält sich in Grenzen und die Löwenpuppe zeigt sich empört.
Unterdessen fliegt der Mixer durch die Luft und wird sich wohl fragen, was er dieses Mal wieder falsch gemacht und womit er dieses unwürdige Dasein verdient hat. Etwas ähnliches fragt sich wohl auch der Hundebesitzer, der gerade mit seinem Schäferhund spazieren geht, und den Mixer mit voller Wucht auf den Kopf bekommt. Der Hund stellt sich jedoch keine Fragen. Er hatte kurz zuvor jeden Hundegott, den er kennt – er ist nämlich ein sehr frommer Hund – gebeten, dem blöden Kind im Kinderwagen eine Abreibung verpassen zu dürfen, da es die ganze Zeit ohrenbetäubend geschrien und Fred – so heißt der Hund – auch noch mit einer Rassel beworfen, die ihn schmerzhaft an der Nase getroffen hat. Nun wittert seine Chance auf Rache. Herrchen kann durchaus ein paar Minuten auf sich selbst aufpassen. Also nimmt Fred die Verfolgung auf und rennt dem Kinderwagenmonster samt seiner Schöpferin bellend über die Straße hinterher.
Den Reisebus, der von links kommt, nimmt Fred gar nicht wahr. Der Busfahrer nimmt Fred jedoch sehr gut wahr und denkt: «Scheiße!» Mit dem inhaltsgleichen Ausruf reißt er das Steuer herum, woraufhin sich der Bus auf Steuerbord legt und die Laternen links und rechts der Straße umhaut.
Eine dieser Straßenlaternen – was sie in diesem Moment dachte bleibt unklar – hat es auf Patrick abgesehen, der gerade auf einer Tour an seiner Wohnung vorbei fahren will. Sie fällt mit einem lauten Knall direkt vor dem Kurier auf die Straße. Das Timing ist dermaßen ungünstig, dass an Bremsen gar nicht mehr zu denken ist. Also fährt er mit vollem Tempo vor die Laterne und steigt unfreiwillig über den Lenker ab.
Der Asphalt ist hart und Patrick hat nicht einmal verstanden, was gerade passiert ist. Viel mehr macht er sich Sorgen um die zehnjährigen Nachwuchsräuber, die schreiend auf den gestürzten Kurier zu stürmen. Die erste Angriffswelle boxt und tritt den am Boden Liegenden, während die Nachhut ungestüm an seinem Rucksack zerrt. Mit diesem machen sie sich auf in eine Gasse. Patrick kontrolliert, ob noch alles an ihm dran ist oder ob etwas erneuerungsbedürftig ist. Außer ein paar blauen Flecken wird er aber wohl keine weiteren Blessuren davontragen. Er folgt den kleinen Gaunern in die Gasse und sieht gerade noch, wie der Inhalt seines Rucksacks in einer brennenden Öltonne landet. Der Betreiber dieser Tonne freut sich sichtlich über den Brennstoff, doch Patrick wird klar, dass er das erst einmal erklären muss.
Wie erwartet, reagiert sein Chef ungehalten. Und das, obwohl Patrick noch nicht einmal geschildert hat, was geschehen ist. Aber er hat seinen Chef während einer Besprechung mit seiner Sekretärin, Patricks Ex-Freundin, gestört. Die vollbusige Schlange, die offensichtlich schneller über Patrick weg war als andersrum, springt auf und zieht sich schleunigst das Höschen wieder hoch.
Beschämt geht sie auf Patrick zu. Dieser deutet auf ihren Schritt und macht damit auf das aufmerksam, was der Minirock nicht zu verbergen mag. Mit einem FLITSCH zieht sie das Kondom heraus.
Der Boss ist ob dieser penetranten Störung nicht bei bester Laune und auch Patricks Geschichte vermag das nicht zu ändern. «Wissen Sie was, Patrick? Sie sind die Sollbruchstelle zivilisierten Lebens!» Der Angesprochene bleibt gelassen. «Sie haben doch keine Ahnung! Kommen sie mal bei mir zuhause vorbei!»
«Hören Sie mir mit ihren fadenscheinigen Entschuldigungen auf! Sie sind diesmal zu weit gegangen!»
«Gefahren», korrigiert der Kurier.
«Machen Sie, dass Sie hier raus kommen! Und wehe ich sehe sie nochmal hier, dann mach ich Ihnen Beine!»
Er will sich gerade seiner Beine vergewissern, muss sich jedoch auf Grund des fliegenden Telefons ducken. Er beeilt sich besser, nach hause zu kommen.
Dort angekommen fällt ihm sofort die am Boden liegende Handpuppe auf. Er nimmt sie an sich und klopft an die Zimmertür. «Simba, ich hab hier deinen.... ähh... Löwen gefunden.»
«Mir egal! Der soll doch abhauen, dieses gefühlskalte irgendwas! Ich will ihn nie wieder sehen!», antwortet der Puppenspieler unter Tränen. Patrick guckt irritiert. «Habt ihr euch ... gestritten?»
«Er kann sich einfach nicht mitteilen. Ich kann Stunden lang raten, was er will und dann mach ich und mach ich... und dann? Ist es wieder nicht richtig. Ich bin fertig mit dem!» Patrick zählt in Gedanken bis dreizehn. Fünf… sechs… sieben ...
«Übrigens!», schallt es aus Simbas Zimmer. «Bongo hat den Fernseher schon wieder geschrottet!»
Wütend wirft Patrick die Puppe in die Ecke und betritt das Wohnzimmer. Einen Aufschrei kann er nicht unterdrücken, als er den Neandertaler verdutzt vor dem Fernseher sitzen sieht. Dieser  deutet auf das Poster einer halbnackten Schönheit und dann auf den Fernseher. Er hatte schon wieder versucht, eine Frau aus dem Fernseher zu entführen.
Genervt begibt Patrick sich in die Küche und lässt sich abgespannt auf einen Stuhl fallen. Er hält das nicht mehr lange aus. Hier muss sich was ändern. Simba kommt aus seinem Zimmer und setzt sich zu Patrick, welcher eine kaputte Fensterscheibe bemerkt. «Was ist denn da passiert?» Der Puppenspieler zuckt mit den Schultern. «Bongo hat den Mixer raus geworfen. Ich glaub', darum gab es den Unfall unten.»
Das war's. In Patrick setzt eine Sicherung für den Bruchteil einer Sekunde aus und lässt eine gigantische Überlastung seines Hirns zu. Er schreit auf, tritt ein Loch in die Tür und rast durch die Wohnung, wie ein Wirbelsturm. Er zerstört alles, was ihm gerade in die Quere kommt und schreit   wie ein Besessener. Dann sieht er die Handpuppe.
Er hört noch Simbas Schrei voller Entsetzen, doch ignoriert ihn und reist der Puppe kaltblütig den Kopf ab. Weinend bricht der Puppenspieler zusammen.
Bongo kommt zum schlechtesten Zeitpunkt aus dem Wohnzimmer. Patrick springt auf den Neandertaler zu. Am Boden ringend entreißt er dem Urmenschen seine Waffe. Mit aller Kraft bricht er die Dachlatte, Bongos «Knüppel», durch und wirft die Einzelteile vor Bongos Füße. Noch immer rasend verlässt er die Wohnung.
Als er gerade durch die Haustür tritt, rennt ihn eine schreiende Mutter samt Kinderwagen beinahe um. «Hau ab, du Assi!» Patrick ist so sauer, dass er gegen ein parkendes Auto treten möchte. Der Plan wird jedoch von Fred, dem Hund, vereitelt. Patrick tritt an Stelle des Autos. Das gefällt dem Hund freilich nicht und deswegen wählt er ein neues Ziel. Patrick wird der Ernst der Lage klar und nimmt die Beine in die Hand.
Während er läuft, wird ihm nicht nur seine Situation, sondern auch sein ganzes Leben klar. Er ist eine Marionette. Eine Puppe auf der Bühne eines irren Puppenspielers, der Herr über sein Leben geworden ist und Patrick jeder Souveränität beraubt hat. Diese Erkenntnis kommt gerade rechtzeitig. Rechtzeitig kann das Fahrzeug der Straßenreinigung jedoch nicht mehr bremsen und fährt den auf der Straße laufenden Patrick kurzerhand um.
Als er im Krankenhaus erwacht, nimmt er nur die meckernde Krankenschwester wahr. Er unterbricht sie ungern in ihrem Groll, doch er hat ein allzu menschliches Bedürfnis.
«Ach, auch mal langsam wach?», begrüßt sie ihn. Patrick ist verwirrt. „Wo... bin ich? Und... seit wann bin ich hier?“ Die Krankenschwester stemmt die Hände in die Hüfte. „Krankenhaus St. Marien, seit drei Jahren.“ Patrick fährt auf. „Was? Drei Jahre?“
Wie sich herausstellt, hat er lange im Koma gelegen. Die Ärzte hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. «Wir haben ihre Angehörigen informiert.» Patrick versteht nicht. «Welche Angehörige?» Der Arzt leuchtet ihm in die Augen. «Oh oh, Amnesie?» Patrick schüttelt den Kopf. «Nein, Autounfall. Beide.» Der Arzt schaut ihn einen Moment lang verwirrt an, wendet sich dann aber an die Schwester, welche daraufhin das Zimmer verlässt.
Plötzlich betreten zwei Gestalten den Raum. Patricks Puls schießt in die Höhe und er bereitet bereits einen Angriff vor. Lediglich die zurückeilende Schwester lässt ihn innehalten. Diese wendet sich jedoch an den Höhlenmensch. «Verzeihung, ich möchte ja nicht aufdringlich sein, aber könnte ich ein Autogramm bekommen, Herr Bundeskanzler?»
Patrick wird schwindelig. Das EKG meldet einen anhaltenden Ton.

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