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Donnerstag, 10. November 2016

Verschlafen

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Mit seinem sonoren Dreiklang versucht mein Wecker sanft, dennoch bestimmt, meinem schläfrigen Treiben ein Ende zu setzen. Ich kontere jedoch mit einem einstudiertem Handgriff, indem ich zunächst den südlichen Bereich meines Mobiltelefons ertaste und dann gezielt auf „Wecker aus“ drücke.
Schlaftrunken erhebe ich mich und suche meine Socken. Kurz darauf sitze ich in meinem Sportwagen und rase in der aufgehenden Sonne die Küste entlang. Das Meer ist heute morgen besonders ruhig und Möwen durchforsten den feinen Sandstrand nach Frühstück.
Ich rieche frischen Kaffee und der Kellner reicht mir eine reichhaltige Wurst- und Käseplatte, dazu frische Brötchen. Der Salon des Hotels bietet eine hervorragende Aussicht auf das in der Morgensonne glitzernde Meer. Plötzlich setzt sich eine attraktive Blondine an meinen Tisch. Ihre großen Augen sind fesselnd, doch ihr großzügig ausgeschnittenes und darüber hinaus auch noch üppig gestaltetes Dekolleté erfordern einfach den Großteil meiner Aufmerksamkeit. Mein Starren scheint sie nicht im Geringsten zu stören, im Gegenteil: Sie scheint eher herausgefordert und wirft mir den verführerischsten Schlafzimmerblick entgegen, den ich je gesehen habe.

Ich schlage die Augen auf und greife erschrocken nach meinem Smartphone. Dieses sagt mir mit verhohlener Schadenfreude durch schmucklose Darstellung der aktuellen Uhrzeit: Du hast verpennt!
Ich springe abrupt auf und erlaube mir ein durch die Zähne gezischtes, dennoch aufrichtiges, „Fuck!“, welches von meiner schlafenden Freundin mit einem Grunzen und einer Drehung quittiert wird. An meine treulosen Socken verschwende ich keinen Gedanken; ich ziehe direkt Frische an. In einer beinahe geschmeidig wirkenden Bewegung rolle ich über das Bett, um mich vollends einzukleiden.
Im Bad angekommen werfe ich einen unentschlossenen Blick auf die Zahnbürste, entscheide mich wegen der Verfügbarkeit von Kaugummis in meinem Auto jedoch gegen sie und begnüge mich mit dem Kamm. Für ausgefeilte Maske und Styling mangelt es jedoch an Zeit.
Ich stürze die Treppen polternd hinunter und halte beim Anblick meines Kaffeeautomaten kurz inne. Er hatte stets zu mir gehalten und verdient einfach meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die vom Poltern geweckte Katze reißt mich jedoch aus den Gedanken und packt die Gelegenheit des erwachten Herrchens beim Schopf. Laut maunzend klagt sie ihr Frühstück ein. Ich verwerfe den sehnsüchtigen Gedanken an frisch gebrühten, heißen, wohlschmeckenden, aufmunternden Kaffee und auch an die Katze, schlüpfe in meine Slippers, packe meine Aktentasche und halte auf die Haustür zu. Empört ob des Nahrungsvorbehalts schmeißt Katze sich entschlossen zwischen meine Beine, motzt wegen des erhaltenen Tritts und nimmt den Kampf mit dem Hosenbein auf.
Die Rechte bereits auf der Türklinke, versuche ich das kleine Raubtier abzuschütteln, doch dieses kämpft mit der Verbissenheit eines, wenn auch besonders klein geratenen, Tigers. Da ich das Kätzchen nur temporär, und nicht etwa langfristig, loswerden möchte, halte ich mich vorsichtig zurück und versuche sie lediglich von meinem Bein abzuschütteln. Als ich jedoch das Reißen von Stoff höre, ist der Spaß vorbei und ich katapultiere Katze mit einem beherztem Tritt in hohem Bogen zurück in die Küche. Das Hosenbein hängt dadurch in nicht weniger Fetzen an mir herunter. Egal, ich habe keine Zeit mehr zu verlieren!
Ich verlasse in meinem Auto sitzend die Einfahrt, um mich sofort brav hinter einem Müllfahrzeug einzureihen. Selbstverständlich muss die gerade angehobene Mülltonne just in diesem Moment eine Störung verursachen, sodass ich weitere fünf Minuten beschäftigungslos in meinem Fahrzeug gefangen bin. Da hätte ich mir auch noch die Zähne putzen können, dachte ich und schob mir einen Streifen harten Kaugummis in den Mund.
Die Bundesstraße ist heute morgen glücklicherweise wenig befahren, doch den wenigen vorhandenen Fahrern sollte man ausnahmslos den Führerschein wegnehmen! Wer fährt denn bitte fünfzig, wenn man hundert Kilometer in der Stunde fahren darf? Vor allem das erste Fahrzeug in der unfreiwilligen Kolonne ist eine besondere Herausforderung, da die Omi immer dann die Spur wechselt, wenn ich zum Überholen ansetze. Ich hupe und blende auf, wie eine Alarmanlage, doch das Mütterchen zeigt sich wenig beeindruckt. Schließlich gelingt es mir, links an zu täuschen, um dann rechts zu überholen.
Ich möchte ihr gerne im Vorbeifahren mit einer eindeutigen Geste  zu verstehen geben, was ich von ihr halte, doch sie kommt mir zuvor und hält mir verbissen den mit einem dicken Goldring besetzten Mittelfinger entgegen. Unter Aufbringung übermenschlicher Selbstbeherrschung unterdrücke ich den Impuls, sie einfach von der Straße zu rammen und gebe Gas.
Eine halbe Stunde später biege ich endlich auf das Firmengelände ein und mein Auto nimmt mit einem bemerkenswerten Automatismus Kurs auf meinen Parkplatz. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass die Besprechung in wenigen Minuten beginnen wird. Die Zeit drängt, doch was ist das?
Mein vollumfänglich vertrottelter Assistent parkt schon wieder auf meinem Parkplatz! Ich hatte ihm in der Vergangenheit mit deutlichen Worten klar gemacht, dass er es das nächste Mal bereuen wird, wenn er sich dort hinstellt. Nun, lernen durch Schmerz, lautet die Devise und ich parke ihn kurzerhand zu. Sobald er ausparken möchte, wird er in die Besprechung platzen und vom Chef eine ordentliche Ansage erhalten. Kurz darauf werde ich ihn ohne zu zögern feuern. Das wird Eindruck machen!
Auf dem Flur werfen mir einige Kollegen zweifelnde Blicke zu. Vor allem mein zerfetztes Hosenbein scheint ein wahrer Blickfang zu sein. Als der Idiot aus der IT gerade etwas, vermutlich wenig Anregendes, sagen will, schneide ich ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Hast du keine Kabel zu verbiegen? Zieh Leine!“
Ich erreiche den Besprechungsraum und erhasche einen Blick durch die schmale Glasfront. Offensichtlich hat das Meeting bereits begonnen. Ich beschließe, den vielseitig beschäftigten Geschäftsmann zu mimen und rausche ohne anzuklopfen in den Raum. „Sorry, sorry“, erörtere ich lasch. „Da war so ein Unfall auf der Hauptstraße und ich musste noch die Unfallstelle absperren und so… Sie wissen ja alle, dass man da nicht einfach so vorbei fahren kann.“ Mein Assistent sitzt unerwarteter Weise auf meinem Platz. „Größenwahnsinnig?“, fauche ich ihn an und schubse ihn von meinem Stuhl.
Nachdem ich mich gesetzt habe, frage ich, was ich bisher verpasst hätte, doch starren mich acht Augenpaare überrascht an.
„Ist was?“, frage ich launisch, doch mein Chef schüttelt den Kopf und deutet mit seinen Händen eine fragende Geste an. „Was zum Teufel wollen sie hier?“ Ich zeige mich äußerst uninformiert. „Na, ich...“, setze ich an, doch der Alte haut die Handflächen auf den Holztisch und baut sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich habe es ihnen gestern schon unmissverständlich klar gemacht, aber ich wiederhole mich hier gerne nochmal für alle: RAUS HIER, SIE SIND GEFEUERT!“
Ich merke einen Knuff an meiner linken Schulter und sitze danach auf dem Boden. Mein Assistent hat mich vom Stuhl geschubst.

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Beruht auf dem Werk unter iam-teach.blogspot.de.

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